Unechte Korrespondenzen. 1860-1865 / 1866-1870: 2 Bde. [Gebundene Ausgabe]

Strohhalme im englischen Wind Theodor Fontanes unechte Korrespondenzen Von Rainer Moritz Kennen wir ihn nicht zur Genüge, den altersweisen Romancier, den anekdotenseligen Wanderer durchs märkische Land, den brillanten Briefeschreiber? Natürlich gehört er ins klassische Lektürerepertoire, natürlich ist er einer von den nicht so zahlreichen Schriftstellern, die gleichsam jung geblieben sind, die unentwegt gelesen und adaptiert werden. Eine verhältnismässig grosse literarische Gesellschaft bemüht sich, seinen Namen auf vielfältige Weise zu ehren, in Potsdam sitzt ein Fontane-Archiv, und auch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur erkennt in ihm immer noch einen, der sie zur Auseinandersetzung reizt. Günter de Bruyn oder Uwe Johnson verarbeiteten reichlich Fontanisches, und Günter Grass liess es sich bekanntlich nicht nehmen, in «Ein weites Feld» eine eigentümliche Fonty-Auferstehung zu inszenieren. Und vergessen wir nicht die Touristen, die sich in Scharen nach Neuruppin aufmachen oder an den Stechlin-See, wo sie andächtig hinausblicken und darauf hoffen, dass der rote Hahn sich endlich wieder aus dem dümpelnden Nass erhebe. Fontane lebt – doch was da in unseren Köpfen kreist, ist meist nur ein kleiner Teil seines Werks. Seine derzeitige Popularität verdankt sich – sieht man von den «Wanderungen durch die Mark Brandenburg» ab – fast ausschliesslich seinen späten Romanen. «Frau Jenny Treibel» (1892), «Unwiederbringlich» (1891), «Der Stechlin» (1899) und vor allem «Effi Briest» (1895) – das sind die Titel, bei denen sich heutige Leser freudig zunicken. So schätzen wir Theodor Fontane als den klugen, liberalen Kritiker einer ausgehenden Ära, als den aufmerksamen Beobachter gesellschaftlicher Verschiebungen und als den unermüdlichen Causeur, der es verstand, Menschen über Gespräche meisterhaft zu porträtieren und dem Dogmatismus die Stirn zu bieten. Die Germanistik weist seit längerem darauf hin, welch kleinen Ausschnitt diese Altersromane bilden. Über sechzig Jahre hinweg erstreckt sich Fontanes Schaffen – ein Œuvre, das freilich in wesentlichen Teilen nicht der Literatur im engen Sinne galt. Der Theaterkritiker, der politische Kommentator, der Korrespondent, der Kriegsreporter – diese Facetten blendete die Nachwelt meist aus, und so entstand das einseitige Bild eines Dichters, der mit grauem Haar feingesponnene Melancholie verbreitet und sich wie sein Alter ego Dubslav von Stechlin klug ins «ewig Gesetzliche» schickt. Vor diesem Hintergrund tut es gut, auf einen anderen, auf den «mittleren» Fontane zurückzublicken. Gelegenheit dazu gibt eine zweibändige, prächtig ausgestattete Edition, mit der die Theodor-Fontane-Gesellschaft ihre Schriftenreihe im Verlag de Gruyter eröffnet. Gut 1200 Seiten zeigen Fontane in den Jahren 1860 bis 1870. Anfang 1859 war er aus London zurückgekehrt, wo er insgesamt etwa vier Jahre als der preussischen Gesandtschaft attachierter Presseagent tätig war. Ein Regierungswechsel nötigte ihn, nach Berlin zurückzukehren, voller Hoffnung auf eine neue erspriessliche Tätigkeit. Doch schnell verflogen alle Aussichten, und er verdingte sich als Mitarbeiter der konservativen «Neuen Preussischen Zeitung», gemeinhin als «Kreuzzeitung» bekannt. Wiewohl im kommenden Jahrzehnt auch die ersten «Wanderungen» erschienen, hatte Fontane in dieser Zeit ein grosses Mass an Kraft in eine wenig aufmunternde und anregende Tätigkeit zu investieren: Er ist zuständig für den sogenannten «englischen Artikel», für jene Spalten der «Kreuzzeitung», die die Leser mit dem Neuesten aus Grossbritannien versorgen sollen. Fontane ist «unechter» Korrespondent, das heisst, er sitzt in seinem Berliner Büro, studiert und exzerpiert die englischen (und einige deutsche) Blätter, um alsbald Kolumne um Kolumne mit scheinbar authentischen Berichten von der Insel zu füllen. Was heute als unlauteres Verfahren gebrandmarkt würde, galt damals als durchaus üblicher journalistischer Behelf. Ohne mit der Feder zu zucken, suggeriert auch Fontane Londoner Intimität. «Seit gestern früh sind wir keines Sonnenstrahles ansichtig geworden», lässt er einen Korrespondentenbrief einsetzen – während sein Auge womöglich auf dem strahlenden Himmel über Berlin ruht. Immerhin: Fontane wusste, wovon er berichtete. Jahrelang war er vor Ort gewesen und hatte sich profunde Kenntnisse des politischen und gesellschaftlichen Lebens in England angeeignet. Viele Akteure des Tagesgeschehens kannte er aus eigenem Erleben, und viele Schauplätze holte er für die unechte Korrespondenz der sechziger Jahre behutsam aus seiner Erinnerung. Die Bonner Germanistin Heide Streiter-Buscher legt mit ihrer Edition, wenige nachgedruckte Texte ausgenommen, Fontanes Brotarbeiten für die «Kreuzzeitung» erstmals wieder vor. Längst nicht alle der – zudem mitunter nicht eindeutig zu identifizierenden – Artikel werden präsentiert, doch die breite Auswahl, die durch Fontanesche Glossen und Leitartikel ergänzt wird, erlaubt es, einer bislang im dunkeln liegenden biographischen Spanne näherzutreten. Einen «Fundus für die Forschung» will die Herausgeberin bereitstellen und damit – das freilich meinen Literaturwissenschafter fast immer – gängige Anschauungen revidieren, zumal Fontane selbst in autobiographischen Rückblicken seine Arbeit für die «Kreuzzeitung» stets marginalisierte und verharmloste. Die informative, doch bisweilen dröge formulierte Einleitung macht allerdings wenig Lust, diese Fontane-Schätze kennenzulernen. Der Anmerkungsapparat ist wohl unumgänglich dürftig ausgefallen und beschränkt sich meist darauf, literarisches Bildungsgut nachzuweisen, wohingegen das Personenregister eine Fülle von wichtigen Hinweisen gibt. Warum also sollen wir, wenn uns nicht die Aussicht auf eine germanistische Habilitation treibt, zwei dicke Bände mit fingierten Korrespondenzen lesen? Eine Antwort ist nicht leicht zu geben – zu monoton geben sich die über Seiten ausgebreiteten Details aus dem englischen Parlament, zu offenkundig fehlt vielerorts die persönliche Handschrift Fontanes. Andererseits: Das «Unechte» erweist sich nicht generell als Manko. Fontane hielt in seiner autobiographischen Schrift «Von Zwanzig bis Dreissig» fest, worauf es in diesem Metier ankomme: «Ich bin selbst jahrelang echter und dann jahrelang unechter Korrespondent gewesen und kann aus Erfahrung mitsprechen. Man nimmt seine Weisheit aus der ‹Times› oder dem ‹Standard› etc., und es bedeutet dabei wenig, ob man den Reproduktionsprozess in Hampstead-Highgate oder in Steglitz-Friedenau vornimmt . . . Natürlich kann es einmal vorkommen, dass persönlicher Augenschein besser ist als Wiedergabe dessen, was ein anderer gesehen hat. Aber auch hier ist notwendige Voraussetzung, dass der, der durchaus selber sehen will, sehr gute Augen hat und gut zu schreiben versteht . . . Das Schreibetalent gibt eben den Ausschlag, nicht der Augenschein, schon deshalb nicht, weil in schriftstellerischem Sinne von zehn Menschen immer nur einer sehen kann. Die meisten sehen an der Hauptsache vorbei.» An «Schreibetalent» fehlte es auch dem Fontane dieser Jahre nicht. So trocken und mühsam sich die Alltagsfron ausnahm, so engagiert schickte sich der «sehende» Korrespondent an, ein konturenreiches Bild der englischen Gegenwart zu geben. Man muss sie suchen, indes sie lassen sich finden, die Prosastücke, in denen der Erzähler Fontane nicht aus seiner Haut kann und mit wenigen Strichen Panoramen entwirft, die an seine Romane und Reiseberichte erinnern. Das thematische Spektrum ist ohnehin gross. Natürlich überwiegen die politischen Grossereignisse: die vielfachen Anläufe, in England eine Parlamentsreform durchzusetzen, der amerikanische Sezessionskrieg, den London genau verfolgt, die Irland-Frage, die grundsätzlichen Debatten über die Leitbegriffe des Konservativismus und des Liberalismus, die englische Einschätzung der preussischen Politik, der Wandel, den die Schlacht von Königgrätz hervorruft, als der Mythos um die preussische «Geheimwaffe», das Zündnadelgewehr, entsteht und Fontane seinen Bismarck-Kult zu pflegen beginnt. Themen zuhauf, die der Korrespondent an der Spree nicht allein referiert, sondern vor allem in den einleitenden und schliessenden Passagen kräftig kommentiert. Der eilfertigen Äusserung eines Politikers attestiert er kurzerhand ein «Fehlen jeglicher historischer und politischer Sachkenntnis»; über das Wochenblatt «The Press» heisst es, es gefalle «sich auf Kosten Preussens (von dem das Blatt so viel weiss wie vom Monde) in überschwänglicher Verherrlichung Österreichs». Gerade in diesen scharfen Urteilen, die der Generallinie der «Kreuzzeitung» folgen, ist das Konservative in Fontanes Überzeugungen mit Händen zu greifen. Der einstige Vormärzler misstraut den Auswüchsen des Liberalismus; während dieser in England historisch gewachsen sei, sieht Fontane in Deutschland «Hohlheit» walten und ein republikanisches Bestreben, das alle «Lebenswurzeln der Monarchie» kappen wolle. Gewiss, in diesen Momenten ist Fontane weit davon entfernt, mit liberalen Anschauungen zu sympathisieren. Wer allein die Differenziertheit in seinen Romanen und Briefen des Alters schätzt, darf in diesen Korrespondenzen einen streitbaren Konservativen kennenlernen – einen streitbaren, ja, doch keinen dogmatisch-verbohrten. Denn zwischen den Zeilen stösst Fontane häufig in Felder vor, die er erst viel später erobern wird: Der industriell vorangeschrittene Alltag in England zum Beispiel lässt ihn die Folgen, Armut und Verelendung, klar wahrnehmen. Ein Artikel (von 1867) zum Thema Arbeiter-Feme in Sheffield referiert ungeschminkt die Bedingungen der Stahlindustrie und empört sich über die in «ein eisernes Gesellschaftssystem verkleidete Neid- und Habsucht». Politik ist für Zeitungsleser nicht alles, und so gönnt sich Fontane regelmässig Ausflüge in die Kleinigkeiten des Lebens. Die Vorliebe des türkischen Sultans für Zitroneneis bleibt nicht unerwähnt, und wenn sich Fontane zum grossen «Derby-Day» begibt, erleben wir ihn von seiner besten feuilletonistischen Seite. Vor dem geistigen Auge, umgeben von Pferdenarren jeder Art, tupft er ein farbenreiches Genrebild aufs Papier, in dem es «wimmelt von bunten, gelben und roten und weissen Jockey-Kappen» und das über englische Mentalität mehr verrät als mancher weitschweifige Bericht über nicht enden wollende Parlamentsdebatten. Fontane sucht diese seltenen Gelegenheiten, das Innenleben einer Gesellschaft und gleichzeitig das Verhältnis zwischen Deutschen und Engländern zu spiegeln. Hier wie dort geht es darum, die «kleinen Züge» herauszustellen, die «Strohhalme, an denen man am besten erkennt, wie der Wind weht». Untergründig schreibt Fontane so an seiner eigenen, sehr konkreten Lebensgeschichte. Aus England zurückgekehrt, begann er allmählich, seine Beziehung zu seinen preussischen Ursprüngen zu überdenken. Die Auslanderfahrung und die Redakteurszeit schenken ihm eine Weltläufigkeit, wie sie wenigen deutschen Autoren des 19. Jahrhunderts eignet. «Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen», so setzen Fontanes «Wanderungen durch die Mark Brandenburg» ein – eine Erfahrung, die sich noch in den sprödesten Beispielen seiner «Kreuzzeitung»-Artikel niederschlägt. Wo über die Eitelkeit der Engländer, über die Whisky-Leidenschaft der Iren oder über die Sensationsgier der Revolverpresse räsoniert wird – insgeheim geht es allenthalben um die Konfrontation mit dem Fremden, das man bei allem Kopfschütteln zu akzeptieren sucht. Fontane will dies seinen Lesern nahebringen, weil er weiss, wie fest die Klischees sitzen: «Wenn wir uns daheim einen Engländer vorstellen, so hat er nicht nur lange Beine und einen gekräuselten roten Backenbart, der aus einem pappsteifen Vatermörder hervorblickt; nein, wir staffieren ihn auch sogleich mit inneren Qualitäten aus: steif, spleenig, wortkarg, Rule Britannia, Nationalstolz.» Die Eigenheiten einer Nation herauszustellen, ohne sie zu niedlichen Abziehbildern zu machen – das ist die Kunst des echten wie des unechten Korrespondenten. In seinen späten Romanen geht Fontane dazu über, die divergierenden Anschauungen sanft aufeinanderprallen zu lassen, sie im verbalen Wettstreit zu erproben. Soweit seine England-Artikel davon noch entferntsein mögen, so unversöhnlich sich Fontane in etlichen seiner Einschätzungen gibt, er zeigt sich dennoch als ein Betrachter, der das Fremde ernst nimmt. Diese Offenheit schlägt die Brücke zum Spätwerk, das heute so uneingeschränkt gepriesen wird. Die Edition seiner Korrespondentenberichte der sechziger Jahre gestattet es – und das ist ihr grosses Verdienst–, den Weg eines Menschen nachzugehen, ihn auch in seinen Irrungen und Wirrungen aufzuspüren. Die Klugen und Weisen, die von jeher klug und weise waren, das sind die Langweiler des Lebens. Fontane zählt nicht zu ihnen, zum Glück, denn «etwas von einem Engländer steckt in jedem von uns».

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